Über den Leerverkauf von Wertpapieren
Der Erwerb von kurshabenden Wertpapieren, beispielshalber
der Barkauf von Aktien auf der Börse, knüpft sich in aller Regel an
die Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden Kursaufschwungs (Spekulationskauf;
Long-Position). Der Wertpapierkäufer wünscht und hofft, seine vorgehaltenen
Papiere in absehbarer Zukunft mit Vorteil wieder losschlagen zu können
("Trading"). Steigt der Markt wie erwartet, so erwachsen ihm
aus der Wiederveräußerung seiner Wertpapiere die erhofften Spekulationsgewinne.
Er handelt nach der längst eingelernten, altüberkommenen Schulweisheit
"Kaufe
billig und verkaufe teuer!".
Und doch lässt der viel berufene Leitsatz
sich gleichsam umgekehrt nehmen, ohne dabei ein Tüpfelchen an Geltung
zu verlieren: "Verkaufe teuer und
kaufe billig!". Nun erweist es sich, dass die äußere Umkehr
der Aufeinanderfolge gerade für den gänzlich Fernstehenden nicht selten
auch gedanklich mit einer inneren Umkehr verbunden ist. Allein wie kann
es sein, dass Spekulationsgewinne sich selbst bei künftig "schlechten"
Kapitalmarktlagen fallender Wertpapierpreise erwirtschaften lassen?
– Die Antwort auf diese Frage, so rätselhaft sie im ersten Augenblick
scheinen mag, liegt überraschend nah bei der Hand: Genau besehen, setzt
der Leerverkäufer auf Gewinne an sinkenden Kursen, indem er hereingenommene
fremde Papiere, also Wertpapiere, die seinem Privatvermögen gar nicht
angehören und die solcherart ein anderer ihm zu deren Verwendung erst
vorstreckt, gleich jetzt verkauft im Vertrauen, diese später zu ermäßigten
Kursen zurückkaufen zu können.*
[* Anmerkung:
Sehr wohl kann ein Aktionär, der einen Kursrückgang vorausahnt, vorher
Kasse machen, indem er seinen Bestand an Aktien zum heute vorliegenden
Börsenpreis abgibt. Hinterher dann, mit dem Eintreffen seiner Erwartungen,
kann er diese zu billigeren Kursen aufs Neue zu erstehen suchen. Man
beachte wohl, dass bis dahin keinerlei Aussicht auf Gewinn (i.S.
einer Vermögensmehrung aus Kursgewinn) besteht. Erst wieder steigende
Aktienkurse im Anschluss an den erfolgten Rückkauf brächten den gehofften
Kapitalertrag ein.]
Ein Börsengeschäft auf fallende Wertpapierpreise
(Baisse-Spekulation) stellt
den Verkauf von Wertpapieren ganz an den Anfang des Verkehrsvorgangs.
Die Einleitung eines Handelsgeschäfts durch Veräußerung der dazugenommenen
Effekten (so z.B. die zu widmungsgemäßer
Verfügung überwiesenen Aktien, Kreditpapiere oder sonstigen fungiblen
Marktgegenstände), die dem Reinvermögen des Verkäufers nicht, sondern
der Wirtschaft eines anderen zugehörig sind, und für deren Wiederbeschaffung
er darum tätige Sorge zu tragen hat, führt bei uns den Namen Leerverkauf
(Verkauf "in blanko" oder gefälliger Blankoverkauf; i.e.S.
Spekulation "à la baisse", Verkauf "à decouvert", "Windhandel";
engl. "short selling", "short sale", "shorting",
"going short").* Der Leerverkäufer selbst wird
vielfach als Baissier, Kontermineur, Kontremine,
Blankoverkäufer (engl. "short seller", "bear"),
einstmals auch als Drücker oder Fixer an der Börse
benannt. Die Vorrichtung einer ordentlichen
Wertpapierleihe ist
es, die dem Leerverkäufer eine rechtliche Handhabe gibt, eine Zeit lang
in den vollen freien Besitz von aus fremdem Besitzstand stammenden Wertpapieren
zu treten. Eine darauf folgende Veräußerung derselben auf der Börse
begründet ihm alsdann eine schwebende Verbindlichkeit mit variablem
Charakter.
[* Aus dem Sachverhalt,
um eine Sache verlegen zu sein, das ist, irgendetwas erstehen zu müssen,
dessen man jetzt oder ein andermal bedarf, hat sich mutmaßlich der Name
"short" gebildet (dem engl. "to be short of sth." entlehnt,
»nicht genügend viel von etwas haben«, "be in short supply",
»knapp sein«, »an etwas Mangel leiden«). "Short" bezeichnet in der Geschäftssprache
allgemein eine unvollzogene, noch ungedeckte, also offene Verkaufsposition
an einem Wirtschaftsgut, die in Erwartung fallender Preisbewegungen
aufgebaut worden ist und noch Deckung erheischt. Die Verwendung von
"long" für einen offenen Posten (d.i.
die tatsächliche Sachherrschaft über Waren und Wertpapiere) in Erwartung
steigender Preise als begriffliches Seitenstück zu "short" erscheint
hiernach nur folgerichtig und einleuchtend.]
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Gedeckte und ungedeckte Leerverkäufe
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Um dem Wertpapierhändler die Veräußerung
von Börsenpapieren zu ermöglichen, die sein eigenes Depot nicht vorhält
und auf die er auch sonst einen unbedingt durchsetzbaren Verfügungsanspruch
inzwischen nicht hat, kommt die Vornahme einer
Wertpapierleihe
in Betracht ("gedeckter Leerverkauf").
Dem Institut der Wertpapierleihe haften im Rechtsleben alle Wesenszüge
eines Sachdarlehns an. Es räumt dem Verkäufer derselben das Gebrauchsrecht
und – aus praktischen Zweckmäßigkeitsgründen – mit ihm auch das Eigentumsrecht
an den Papieren ein. Die Einrichtung einer Wertpapierleihe ist im regelmäßigen
Verlauf eines gedeckten Leerverkaufs von Wertpapieren an der Kassabörse
mit dem Beginn des Geschäftsvorgangs synchronisiert. Mit einem zu einer
späteren Zeit noch vorzunehmenden Rückkauf ganz gleichartiger Finanzmarkttitel
und ihrer pflichtgemäßen Zurückstellung und Übergabe zurück an den Verleiher
findet sowohl dieser als auch der der Wertpapierleihe* seine
Vollendung. Für den Wiederkauf, der diesmal der Deckung und Rückerstattung
und nicht wie sonst dem Behalten gilt, hat sich die englische Benennung
"short covering" (Deckungskauf, Schließen der Leerposition; "covering
the short", "closing a short position") eingebürgert. Zumal
an den amerikanischen Aktienbörsen liegt in Leerverkäufen an und für
sich nichts Auffälliges oder Ungewöhnliches. Dort wird – anders etwa
als auf dem europäischen Festlande – von Leerverkäufen, wenn nötig zusammen
mit der Durchführung von Wertpapierleihgeschäften ("securities lending"),
ohne Gewissenszweifel beinahe ebenso selbstverständlich Gebrauch gemacht
wie es vielenorts nur bei herkömmlichen Ankäufen von Wertpapieren Sitte
und Rechtens ist.
[* Anmerkung:
Wiewohl der gesamte Stoff unstreitig von der Denkweise des Rechtslebens
geprägt ist, mag der Tatbestand
einer Wertpapierleihe ("security lending") hier und im Folgenden
trotzdem immerhin jenseits der Rechtslehre irgendeines Landes verstanden
werden; also weder nach deutscher Rechtsanschauung zivilrechtlich als
Leihe (vgl. §598 BGB) noch
als entgeltliches Sachdarlehen im Sinne des
§607 BGB. Nach
§607 BGB etwa versteht man
unter einer Wertpapierleihe sinngemäß die Überlassung von Wertpapieren
(wie eben Anleihen oder Aktien) nach Bestimmung von Art, Güte und Menge
auf eine im Vorhinein vereinbarte Laufzeit gegen Entgelt. Ähnliche Verhältnisse
gelten auch für die Rechtsordnung Österreichs (§983
ABGB) und der Schweiz (Artikel 312318OR).
Eine Randbemerkung:
Die im Internet in erster Stelle wie auch im zeitgenössischen Schrifttum
sonst oft aufgenommene Wendung "Leerverkauf ... ist ein Begriff aus
dem Bank- und Finanzwesen, der den Verkauf von Basiswerten (insbesondere
Devisen, Wertpapiere oder Commodities) bezeichnet, über die der Verkäufer
zum Verkaufszeitpunkt nicht verfügt" ist als ungenügend zu beurteilen.
Ihr Wortlaut verstrickt insoweit in Verfänglichkeiten, weil niemand
etwas zu welchem Zwecke immer gebrauchen kann, worüber er nicht eigenmächtig
verfügt. Es gilt dies nicht zum wenigsten vom Leerverkauf von Wertpapieren
zur Kasse. Hätte nämlich der Verkäufer die Papiere nicht in der Verfügungsmacht,
wäre ihr Verkauf schlechterdings nicht möglich. Käme er in einem Gedankenspiel
indessen trotzdem zustande, so wäre er, in folgerichtiger Weise zu Ende
gedacht, allemal seiner unmittelbaren Deckung beraubt. Sowie man aber
vermittelt durch einen hinlänglich gesicherten Rechtsanspruch mit Zuversicht
auf ihre fristgerechte Überlieferung rechnen kann, sind diese sowohl
vom rechtlichen als auch vom wirtschaftlichen Standpunkt verfügbar.
Jedenfalls lässt der vorstehende Deutungsversuch den Leser, der sich
um Verständnis bemüht, im Halbdunkel darüber, dass dem Leerverkäufer,
zumal nach Vornahme einer Wertpapierleihe, die fraglichen Wertpapiere
in Wahrheit schon im Zeitpunkt ihres Verkaufs vom Rechtsstandpunkt unleugbar
zur Verfügung stehen. Denn rechtlich genommen stellt die Wertpapierleihe
als solche, wie schon erwähnt, ein Sachdarlehn vor, wonach die nämlichen
Papiere zur Nutzung in fremde Wirtschaft übergehen. Hierauf verfügt
der Leerverkäufer über die in sein Vermögen übertragenen Papiere in
unmittelbarer Weise, weil er diese für seine Zwecke herbeizuziehen nun
gegenständlich wie rechtlich die Macht hat. Er hat sie kraft Einrichtung
einer Wertpapierleihe in seine wirtschaftliche Gewalt gebracht und verfügt
leibhaftig über sie, indem er sie verkauft (= Leerverkauf; denn dem
Reinbestand seines Eigendepots ist das Papier ja nicht beizuzählen.
Es war, ist und bleibt buchstäblich "leer davon"). Ebenso vage ließe
sich, anfechtbar genug, nach der schiefen, aber leicht verfänglichen
Logik der obigen Ausdeutung wohl auch der Begriff der Wertpapierleihe
selbst umschreiben und vertreten: "Wertpapierleihe ist ein Begriff aus
dem Bank- und Finanzwesen, der die Leihe von Wertpapieren bezeichnet,
über die der Entleiher zum Leihzeitpunkt nicht verfügt!(?)". – Die wahrhaftige
oder rechtliche Verfügungsgewalt kann also der springende Punkt beim
Leerverkauf nicht sein. Der Kernpunkt wird vielmehr durch den Sachverhalt
berührt, dass der
Verkauf eines geschuldeten, jedoch durchaus verfügbaren Markgegenstandes
an die Spitze des ganzen Vorgangs gesetzt ist, der dadurch angestoßen
erst durch Beschaffung und Rückstellung desselben oder an seiner statt
eines gleichartigen Titels zur Vollendung gebracht wird.]
Allgemein gefasst:
Der
Leerverkauf sei
begrifflich erklärt als Summe rechtlicher Eigenschaften und wirtschaftlicher
Betätigungen, an deren Spitze der Verkauf von Wertpapieren oder
anderen verkehrsfähigen Vermögensgegenständen (einschl. Devisen,
Finanzkonstrukte und sonstige Verfügungsrechte des Kassa- oder Terminmarktes)
steht, welche dem Reinvermögen des Leerverkäufers von vornherein
nicht zuzurechnen sind, wonach erst durch Wiederbeschaffung und
Rückerstattung derselben oder gleichartiger Titel der ganze Vorgang
zur Vollendung gebracht wird.
Im Börsenverkehr ist es Sitte, in blanko
zur Kasse verkaufte Wertpapiere, je nach Verschiedenheit der Platzgebräuche
(Börsen-Usancen), nicht auf der Stelle, sondern erst nach zwei bis drei,
aber nicht später als nach fünf Kalendertagen wahrhaftig auf den Käufer
zu übertragen. Dieses Zeitfenster, das zwischen Abschluss des Börsengeschäfts
und Ablieferungsfrist der Papiere liegt, öffnet den Raum für die Verfahrensart
der ungedeckten Leerverkäufe.
Gelangt nun unter solcherart vorausgesetztem Verhältnis ein Wertpapiergeschäft
zum Abschluss, wo die veräußerten Titel bei Eintritt der Rechtswirkung
nicht dem Eigentum des Leerverkäufers zugehörig sind, so stellt das
Geschäft zunächst einmal nicht mehr vor als ein bloßes Lieferungsversprechen,
das als solches den technischen Namen "ungedeckter
Leerverkauf" führt ("naked short sale", Verkauf "à
decouvert"). Grund- und Wesenszug des "ungedeckten Leerverkaufs" ist
es sohin, dass die bezüglichen Wertpapiere zum Zeitpunkt ihres Verkaufs
weder notwendig in den Besitzstand des Verkäufers übergegangen sind
noch ihre Erlangung durch das Rechtsgebilde einer Wertpapierleihe oder
eines ersetzenden Rechtsanspruchs für die Zukunft mit Zuversicht gesichert
ist. Man beachte wohl: Selbst wenn das Geschäft anfangs durch wirkliche
Stücke nicht unterlegt ist, wird mit dem Verpflichtungsgeschäft nichtsdestoweniger
ein Kaufvertrag geschaffen, aus dem sich ein Erfüllungsanspruch des
Käufers auf Übertragung der Papiere zum ausgemachten Preis herleitet.
Der Sache nach bleiben die Ansprüche aus dem Vertragsverhältnis ungeschmälert
aufrecht, falls die Verschaffung der Papiere hernach misslingen sollte
(Stückemangel, Dekuvert) oder sonst ihre Überlieferung bloß in Verzug
geriete (Lieferungsverzug). In dieser Spielart nimmt der Leerverkauf
unstreitig die Erscheinungsform eines Lieferungsgeschäfts (Termingeschäft)
an. Dem Wertpapierverkäufer erwächst mit Vollzug des Blankoverkaufs,
einerlei, ob gedeckt oder ungedeckt, gleich zu Beginn eine variable
Verbindlichkeit, die in ihrem Gegenwert von Anfang bis zu Ende dem ganzen
Marktwert der Papiere proportional ist. Wächst dieser, so wächst mit
diesem auch seine Verbindlichkeit in geradem Verhältnis um ein entsprechendes,
und umgekehrt.
Die Vornahme "ungedeckter Leerverkäufe"
("naked short-selling", "fixen") ist indes vielerorts
von Staats wegen untersagt. Aus leicht einleuchtenden Gründen: Wenn
und weil die Zahl der Stücke, die sich mit Hilfe von "naked short sales"
umsetzen lassen, dem Grundgedanke nach sich schier ohne absehbare Grenze
steigern ließe und erst recht nicht mehr an den davon im Verkehr befindlichen
Vorratsstock gebunden wäre, werden der darin liegenden erhöhten Wert-
und Kreditrisiken halber in wachsendem Maße Befürchtungen eines gemeinschädlichen
Marktversagens wachgerufen, das in seinem ganzen vorgestellten Umfange
nicht nur zu kurzwährenden Erschütterungen, sondern zu lang anhaltenden,
ernsten Störungen in den Grundfesten der Finanzordnung führen und damit
am letzten Ende eine Zerrüttung des gesamten Gefüges entzünden könnte
("systemic risk"; Krisenfurcht).*
[* Anmerkung:
Es kann insofern darüber nicht leicht Unklarheit bestehen, als beim
ungedeckten Leerverkauf angebotsseitig nichts als ein bloßes Lieferversprechen
mit einem dem Wesen der Sache nach in der Gesamtstückzahl geradezu unerschöpflichen
Expansionspotential (Vermehrungsfähigkeit) auf einen fertig gegebenen,
verhältnismäßig knapp bemessenen und also weit eher erschöpflichen tatsächlichen
Zirkulationsbestand an Effekten trifft. Allein diese Zusage ohne unmittelbare
Leistung ist es aber, die im Zeitpunkt der Zusammenführung von Angebot
und Nachfrage ungehemmt Eingang in die Kursbildung findet. Ein auftretender
Abgabedruck, oder sei es nur ein preisdrückender Grundton am Markt,
kann durch diese Entfremdung verursacht, zumindest vorübergehend bis
zum Vollzug der Rückdeckung der ausstehenden Leerpositionen, in ihrer
Wirkung um ein bedeutendes vervielfacht werden. Die im Texte ausgesprochene
Befürchtung mag man darum durchaus für berechtigt halten, solange und
insoweit die angehenden Märkte nicht vollständig und vollkommen im Sinne
der Theorie sind.]
Das finanzielle Ergebnis aus einem spekulativen*
Leergeschäft mit Wertpapieren, d.h.
ein nach Eindeckung eines vorangehend für sich bestehenden Leerverkaufs
hervorgehender Vermögensgewinn oder Vermögensverlust, vor Steuern, leitet
sich – wie es überhaupt für spekulative Aufstellungen auf den Märkten
bezeichnend ist – her aus dem Unterschied zwischen Verkaufskurs und
Einkaufskurs des nämlichen Finanztitels, berichtigt um Brokergebühren,
den reinen Zinsaufwand und um sonstige
Handelskosten
als Abzugspost vom Ertrag (= Reinertrag). Jeder verständige Händler
wird folgerichtig danach trachten, durch geschickte Ausführung der Geschäfte
auf den Märkten die Spannung zwischen den beiden Kursziffern, und damit
den Überschuss für seine Wirtschaft, so groß als möglich zu gestalten.
Die zeitliche Reihenfolge selbst, in der Käufe und Verkäufe auf den
Effektenmärkten vorgenommen werden, spielt von diesem Gesichtspunkt
aus offenkundig keine Rolle für den Belauf des am Ende verdienten Preisüberschusses
aus einem Wertpapiergeschäft, solange der Verkaufspreis den Einstandspreis
übertrifft.
[* Anzumerken ist,
dass die Spekulation auf fallende Wertpapierpreise zwar für die Durchführung
eines Leerverkaufs der hauptsächlichste, längst aber nicht der einzige
von den möglichen wirtschaftlichen Beweggründen bleibt. Zu den weiteren
Veranlassungen für einen Abschluss von Leergeschäften vergleiche man
folgende Seite.]
Mr. Short, ein Börsenspekulant,
der dem Handel mit Aktien leidenschaftlich ergeben ist ("stockjobber"),
verfolgt seit längerem aufmerksamen Blickes den Kursverlauf der ABCD-Aktie.
Ihm bleibt dabei nicht unbemerkt, dass diese schon seit einigen Wochen
im Kurse entschlossen aufwärts geht. Doch mit den unlängst sich mehrenden
Anzeichen einer ungünstigen Konjunktur wachsen auch Mr. Shorts Zweifel
an der Nachhaltigkeit der eingeschlagenen Richtung. Nach reiflicher
Überlegung und Abwägung aller Umstände gelangt er endlich zu dem Wahrscheinlichkeitsschluss,
dass mit dem jüngst verzeichneten Stand der Gipfelpunkt des Aufschwungs
erreicht sei und der Kurs vermutlich über kurz oder lang eine Schwenkung
vollziehen werde. Um nun am erwarteten Kursumschwung der ABCD-Aktie
auf kürzestem Weg Gewinn zu machen, beschließt Mr. Short, Aktien der
Gesellschaft in Verkaufskommission zu geben. Hierzu wendet er sich kurzerhand
an seine Hausbank (Kommissionshandelshaus,
Broker) mit dem Auftrag, einen
Posten ABCD-Aktien, sagen wir 500 an der Zahl, für ihn auf der Börse
zu veräußern. Weil Mr. Short seinerseits allerdings keine der benötigten
Anteilscheine der ABCD AG im Bestand führt, muss er sich zur Durchführung
seines Vorhabens die für den Verkauf bestimmten Papiere von einem anderen
Aktionär verschaffen ("leihen"), so nämlich von einem, der ABCD-Aktien
in der gefragten Stückanzahl in seinem Portfolio wirklich vorhält ("long
ist").* Mr. Short braucht sich indes weder um den weiteren Hergang
noch um die innere Verrichtung des Wertpapiergeschäfts persönlich zu
bemühen; denn einesteils sind Börseneffektengeschäfte, wie man weiß,
besonders schnelllebige Verkehrsvorgänge, und andernteils kann er als
Kunde eines Wertpapierhandelshauses für diesen Zweck ganz einfach die
Dienste seines Brokers in Anspruch nehmen. Indem er eine Wertpapier-Verkauforder
mit der einleitenden Formel "Zum Öffnen verkaufe ich ..."
("open sell ...", auch "short sale ...", d.i.
eine Blankoofferte) vorbringt, erfährt der Broker von der Absicht des
Leerverkaufs und wird sich fortan um das weiter Erforderliche bekümmern.
Von der Annahme des Börsenauftrags bis hin zu dessen Ausführung ("trade
matching") samt abschließender Bestätigung verstreichen gemeinhin
nur einige wenige Augenblicke.
[* Die eigentliche
Übertragung der appropriierten Papiere erfolgt, wie oben bereits darauf
hingewiesen, je nach den an den Börsenplätzen in Geltung stehenden Regeln
gewohnheitsmäßig ("regular way") erst am zweit- oder, wie besonders
in den Vereinigten Staaten nach altem Brauch und Herkommen, längstens
am drittfolgenden Bank-Geschäftstage, d.i.
zum "settlement date". Ist der Leerverkäufer ("shortseller")
aus welchem Grunde immer außerstande, die Papiere beizubringen, so gerät
er in Erfüllungsverzug ("failure to deliver"); hiernach droht
dem Säumigen als daran geknüpfte Rechtsfolge im Auftrag des Berechtigten
die Zwangsvollstreckung ("Exekution"). Bei Leerverkäufen untertägig
("intraday"), d.h. allein
bei denjenigen kurzlebigen in sich geschlossenen Geschäften, die eine
abgegrenzte Börsenhandelszeit nicht durchdauern, fällt die Notwendigkeit
der wahrhaftigen Umsetzung einer Wertpapierleihe für gewöhnlich ganz
hinweg.]
Diejenigen Finanzinstitute (Banken, Broker
und sonstige Finanzdienstleister) wieder, die ihren Kunden von Haus
aus die Möglichkeit des Abschlusses einer Wertpapierleihe zur Gebrauchsüberlassung
auch für spekulative Absichten einräumen, führen aus diesem Anlass sogenannte
Leerverkaufslisten ("shortlists", "approved lists").
Derlei "Shortlists" umfassen die Namen all jener börsengängiger Wertpapiere,
die gegenwärtig in einem sogenannten "Pool" (Sammelbecken) von Wertpapierbeständen
für fremde Hand parat liegen und die damit Händlern, die das beabsichtigen,
zum Zwecke eines Leerverkaufs nach Bedarf und Auswahl unmittelbar zugänglich
sind. Überantwortet werden die nämlichen Börsenpapiere einem solchen
Pool zu einem gewissen Teil von verleihwilligen Kunden des beauftragten
Brokerhauses selbst, zu einem weitaus größeren Teil aber von angeschlossenen
Investmentgesellschaften, die bei den ihnen angegliederten Depositenanstalten
("central securities depository", Wertpapiersammelbank) entsprechend
umfangreiche disponible Depoteigenbestände in Verwahrung halten (namentlich,
neben anderen, z.B. JPMorgan
Chase&Co. oder Citibank
in New York). So steuern etwa Investmentgesellschaften, Pensionskassen,
Effektenbanken, Versicherungen, Brokerhäuser und andere Maklerfirmen
von Rang und Namen regelmäßig den gewichtigsten Teil zu einem derartigen
Pool bei.
Da sich die ABCD-Aktien unseres Fallbeispiels
im Streubesitz zahlreicher Anteilseigner befinden mögen und gleichzeitig
in den Leerverkaufslisten verzeichnet stehen sollen, ist der Broker
der angehenden Depotbank
nunmehr imstande, bei Vorliegen einer entsprechenden Order eines ihrer
Kunden sogleich einen Anteilhaber namhaft zu machen, der ihm als Halter
der fraglichen Papiere (Long) mit ihrer Überlassung aushilft. Sowie
die interne Umschreibung der Aktien auf den angesprochenen Wertpapierkonten
einmal erledigt ist, steht dem erwünschten Leerverkauf ("shorting")
der Aktien gegen Kassa an der Börse augenblicklich nichts mehr im Wege.
Nehmen wir an, Mr. Short
konnte die ihm überlassenen 500 ABCD-Aktien zu einem Stückpreis von
20 US-$ auf der Börse verkaufen. Der Erlös aus der Veräußerung des Postens
beläuft sich somit auf eine Wertsumme in Geld von 500 x 20 US-$ = 10000
US-$. Dieser Geldbetrag (nach Abrechnung der Spesen) wird seinem Konto
sonach gutgeschrieben. Mr. Shorts Stückekonto weist jetzt einen Fehlbestand
von –500 Stück Aktien für sein
Wertpapierdepot aus, sein Finanzkonto zeigt demgegenüber eine Gutschrift
im Gegenwert der verkauften Papiere.
Angenommen, einige Tage
darauf habe sich die vermutete Wendung eingestellt und der Börsenkurs
der ABCD-Aktie sei um 2 US-$ auf jetzt 18 US-$ hinabgesunken. Mr. Short,
dem dieser Kursstand behagt, beschließt daraufhin, den eindeckenden
Kauf seiner offenen Leerverkaufsposition zu veranlassen. Zu diesem Ende
gibt er seinem Broker den Auftrag, für ihn 500 ABCD-Aktien anzukaufen,
und zwar limitiert zu eben 18 US-$ das Stück. Der Broker leitet die
entgegengenommene Kauf-Order sogleich an die Börse weiter, wo sie annahmegemäß
zu dem genannten Limitkurs im Markt ausgeführt werde. Mr. Short bezahlt
im Zuge der Abwicklung des Kaufschlusses für den Aktienerwerb
9000 US-$, die an den Verkäufer
der Papiere gehen, und erhält im Gegenzug 500 ABCD-Aktien gutgeschrieben.
Mr. Shorts Kredit in Wertpapieren,
der bisher noch in einem Umfange von 500 Aktien auf seinem Stückekonto
zu Buche steht, wird nun dadurch wieder getilgt, dass die von ihm (zurück)erstandenen
Papiere über das Clearingsystem der Börse retour in das Depot des ursprünglichen
Verleihers eingebucht werden. Die Besorgung des Buchungsverkehrs übernimmt
wieder Mr. Shorts Broker. Er wird in dieser Sache tätig, sofort nachdem
der Wertpapierkaufauftrag abschließend vollzogen werden konnte. Unter
dem Strich hat Mr. Short zuerst 500 Aktien entliehen und nachher dann
500 Aktien gleicher Gattung zurückgestellt, wonach keine weiteren Ansprüche
von dritter Seite aus dem Leergeschäft mehr gegen ihn bestehen.*
Mr. Short hat durch seine Spekulation auf fallende Aktienkurse einen
Bruttogewinn (vor Handelsspesen, etwaigen Leihgebühren und vor Steuern**,
mit Vernachlässigung von Margen und Zinseffekten) von insgesamt 10000
US-$ – 9000 US-$ =
1000 US-$ erlangt.
Auf sein Kapital bezogen hat er demgemäß eine Rendite brutto
von (9000 US-$ – 10000US-$)
/ – 10000 US-$ = 0,1 bzw.
10
% gemacht. Mr. Shorts Rechnung ist offenbar glatt aufgegangen.
Hätten ihn indessen seine Hoffnungen getrogen und der Börsenkurs der
ABCD-Aktie wäre zu seinen Ungunsten wider alles Erwarten ansehnlich
emporgestiegen, so hätte er, da es ihm an anderweitigen Schutzvorkehrungen
mangelte, aus seinem Leergeschäft Verluste in entsprechendem Ausmaß
zu verschmerzen gehabt.***
[* Die physische
Identität der Stücke (die Spezies) ist hierbei ohne Belang, falls diese
nur von gleicher generischer Art ("vertretbar", "fungibel") sind.]
[** Geht die Frist
zwischen Leerverkauf und Eindeckung über einen Zeitraum von gesetzlich
vorbestimmter Dauer (z.B. von
1 Kalenderjahr) hinaus, bleiben verwirklichte Veräußerungsgewinne aus
Aktiengeschäften infolge steuerlichrechtlicher Zweckmäßigkeitserwägungen
nach der Rechtssprechung vieler Länder oftmals außer Ansatz.]
[*** Insofern sind
Leerverkauf und Finanzierung aufs Nächste verwandt. Eine "negative"
Rendite aus einem Leergeschäft kommt alsdann einer tatsächlichen Verzinsung
für eine Finanzierung gleich, et vice versa. Nicht unerwähnt
bleiben soll endlich noch, dass die Vermögensverhältnisse des Halters
der Long-Seite sich genau spiegelbildlich verhalten. Was dieser gewinnt,
verliert der Halter der Short-Position, und umgekehrt.]
Bei genauerer Betrachtung ist die Wertpapierleihe
als solche dem Grundsatz nach sogar durchführbar ohne Unterschied der
wirklichen Beschaffenheit desjenigen Finanzmarkttitels, der zum Darlehen
hingegeben bzw. empfangen wird. Eine Wertpapierleihe lässt sich demgemäß
ebenso wohl mit Aktien oder ETFs ("exchange-traded funds")*
wie beispielsweise auch mit Schuldverschreibungen bewerkstelligen. Mitunter
schließt der Begriff der Wertpapierleihe noch weitergefasste Formen
von Finanzmarktkreditgeschäften ein. So werden in Deutschland selbst
Wertpapierpensionsgeschäfte ("repurchase agreement", Repo) unter
diesem Namen übernommen. Eine sich daran schließende widmungsgemäße
sachliche Veräußerung der Schuldtitel vorgenannter Gattung dient gemeinhin
weniger als ein Vehikel zu Zwecken der Spekulation als vielmehr Nebenzwecken
der kurzfristigen Finanzierung mit fremden Mitteln sowie in vielen Fällen
auch denen des Liquiditätsmanagements.
[* Geschäftsanzeige:
ETFs handeln mit dem Consorsbank Trader-Konto!
]
Wie nach dem vorausgegangenen Beispiel
leicht zu durchblicken, handelt es sich bei der Geschäftsform einer
Wertpapierleihe ihrer Wesensart nach um einen Kredit in beurkundeten
Wertrechten (Sachdarlehn), nicht aber um eine
Überlassung von Geld.* Ein solcher
Kredit in Wertzertifikaten wird im Falle eines gedeckten Leerverkaufs
gewährt nach einem vorab bereitgestellten, festgesetzten Muster aus
Wertpapierdarlehensgeschäft und Börsenkassageschäft, wodurch an den
Bank- und Börsenplätzen selbst die Durchführung von Leerverkäufen zwischen
einander Fremden ohne Anstoß angeht. Die Nämlichkeit des Leihenden ("lender")
und Borgenden ("borrower") der in Rede stehenden Börsenpapiere
ist jede für sich lediglich dem mit der Abwicklung beauftragten Kommissionshaus
und allenfalls auch der Börse bekannt; die eigentlichen Parteien kennen
einander nicht und verbleiben somit einer dem anderen als auch gegen
dritte Personen ungenannt. Wertpapierdarlehensgeschäft und Börsenkassegeschäft
werden vom Rechtsstandpunkt grundsätzlich als zwei abgesonderte, eigenständige
Geschäfte genommen.
[* Wie das oben
gegebene Beispiel klar macht, schuldet Mr. Short nach Vollzug des Leerverkaufs
500 Stücke von der Aktie, und nicht etwa deren Verkaufswert von 500
x 20US-$ = 10000US-$.]
Hergeliehene Wertpapiere gehen auf eine
gewisse Zeit zur beliebigen Benutzung in die Verfügungsgewalt des Entleihers
über. Unterdessen ist ihm auch die Ziehung von Nutzungen aller Art aus
den in Kost genommenen Papieren vergönnt. Für entgangene Zinsleistung,
Stückzinsen usw. sind dem Verleiher jedoch bei der Verwirklichung Ausgleichszahlungen
zu leisten (Remuneration). Ungleich der Überlassung barer Geldmittel
ist es dem Verleiher der Papiere versagt, aus der Hingabe von Effekten,
d.i. aus einem Wertpapierdarlehn
als solchem, einen Anspruch auf Zahlung von Zinsen i.e.S.
gegen den Entleiher herzuleiten. Er erhält immer bloß so viel Stücke
zurück als er hingibt. Wurde indessen durch gesonderte Abrede unter
den Parteien die Bezahlung einer "Leihgebühr" für eine vorübergehende
Nutzung der Stücke durch einen Wertpapierleihevertrag ausgemacht (üblich
sind 0,2 bis etwa 10 Prozent p.a.,
je nach Bonität zuweilen auch deutlich darüber), so vermag der Verleiher
mit Hilfe der durch die zeitweilige Hergabe seiner Wertpapiere zuwachsenden
Geldleistungen die Wertentwicklung (Performance) seines Wertpapierportefeuilles
c.p. zu heben. Überdies vermindern
sich durch eine Wertpapierleihe seine Auslagen um Gebühren der Depotverwahrung,
für Versicherungen, Kupondienst usw., denn die hergeliehenen Papiere
sind buchhalterisch nun nicht mehr dem Depotkonto des Verleihers beizurechnen
und können ihm sohin auch keine Kosten mehr verursachen. Die beiden
letztgenannten Punkte werden vom Standpunkt des Verleihers regelmäßig
als die wirtschaftlichen Hauptantriebe für den Abschluss von Wertpapierleihgeschäften
erachtet. Dementgegen entstehen dem Entlehner von Wertpapieren unmittelbar
zurechenbare Kosten aus der Wertpapierleihe erst durch anfallende Bank-
oder Brokergebühren* sowie durch etwaige Abreden über eben solche
Leihgebühren. Jene Beträge gebühren selbstverständlich dem Verleiher
der Papiere und sind ihm folglich pünktlich zur ausgemachten Zeit und
in voller Höhe abzuführen.
[* Die von der
Börse erhobenen Ordergebühren zur Ausrichtung und Abwicklung eines Leerverkaufs
unterscheiden sich in aller Regel kaum oder gar nicht von denen, die
zum Ankauf von Wertpapieren in Anschlag gebracht werden.]
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